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Hybrid: Forum Versicherungsrecht am 31.03.2022: Freie Anwaltswahl in der Rechtsschutzversicherung

Das erste Forum Versicherungsrecht des Jahres 2022 mit dem Thema „Freie Anwaltswahl in der Rechtsschutzversicherung“ wurde am 31. März 2022 in hybrider Form ausgetragen. Im Haus der Universität und online über Zoom hörten insgesamt 120 Teilnehmer Dr. Ulrich Eberhardt, Mitglied des Vorstandes der ROLAND Rechtsschutz-Versicherungs-AG, Köln und Prof. Dr. Domenik Wendt, LL.M., Professur für Bürgerliches Recht, Europäisches Wirtschaftsrecht und Europarecht an der Frankfurt University of Applied Sciences, zu.

Eberhardt eröffnete die Thematik mit einem Blick auf die Aspekte der freien Anwaltswahl aus der Sicht eines Rechtsschutzversicherers. Einleitend ging er auf einen von ihm für die ROLAND Rechtsschutz-Versicherungs-AG bestrittenen Rechtsstreit ein, dessen Gegenstand eine Rechtsschutzversicherungsbedingung war, die – ähnlich der Werkstattbindung der KFZ-Versicherung – eine Anwaltsbindung vorsah und so den Versicherungsnehmer in den weiteren Instanzen privilegieren sollte. Als diese Rechtsfrage bereits nicht mehr praxisrelevant war, entschied der BGH zugunsten Eberhardts. Eberhardt schloss für sich daraus, dass eine größere Kompromissbereitschaft den Rechtsstreit hätte ersparen können. Diese Kompromissbereitschaft habe er insbesondere während der Corona-Pandemie und dem Aufkommen von Legal Tech beobachtet.

Aus dem Roland-Rechtsreport gehe hervor, dass heute bereits zwei Drittel der Deutschen keinen rechtsanwaltlichen Konflikt mehr wollen und gleichzeitig nur zwei Drittel zufrieden mit der Judikatur seien. Daraus schlussfolgerte Eberhardt, dass ein Drittel kein Vertrauen in die Justiz habe. Insbesondere bei den unter 45-Jährigen falle auf, dass zwei Drittel lieber auf Legal-Tech-Anbieter zurückgreifen, anstatt einen Anwalt zu konsultieren. Auf diese Entwicklung habe der Bundesgesetzgeber versucht zu reagieren und durch die Einführung eines Erfolgshonorars ab 2000 € die Anwälte auf Augenhöhe mit Legal Tech Anbietern zu bringen. Diese Entwicklung „triagiere“ allerdings nicht hinreichend werthaltige Forderungen, sodass ein diskriminierungsfreier Zugang zum Recht verwehrt werde.

Das Ergebnis sei eine Justizverdrossenheit, sodass das Verhältnis der Bevölkerung zum Recht gänzlich kippen könne. An dieser Stelle müssten insbesondere die Rechtsschutzversicherer hinreichend Zugang zum Recht garantieren, um eine weitere Intensivierung dieser Entwicklung zu unterbinden. Derzeitige Liberalisierungs- und Ökonomisierungsentwicklungen in der Rechtsberatung und Rechtsschaffung würden sich bis 2030 verstärken. Demografische Entwicklungen würden gleichzeitig zu einer Unterbesetzung der Rechtsorgane und Schließung von Gerichten führen. Diese Bedenken habe der Deutsche Anwaltsverein bereits 2013 geäußert und müssten adressiert werden. Nicht nur könne man sich an Modellen der Ärzte zur Tele-Medizin orientieren, doch kämen insbesondere den Rechtsschutzversicherern hier eine tragende Rolle zu, um den Zugang zum Recht für jedermann und damit das Vertrauen in das Recht zu erhalten und auszubauen.

Im Anschluss ging Wendt auf die freie Anwaltswahl im Rahmen der alternativen Streitbeilegung ein. Rechtliche Grundlage der freien Anwaltswahl sei Art. 201 I lit. a) Solvency II-RL (RL 2009/138/EG), umgesetzt in § 127 VVG und konkretisiert durch die europäische Rechtsprechung. Hierzu nannte Wendt die Anwaltswahl bei kollektivem Rechtsschutzinteresse (EuGH, Urt. v. 10.09.2009 – C-199/08). Gleichzeitig sei eine Bindung an Kanzleien des Sitzes der ersten Instanz möglich (EuGH, Urt. v. 26.05.2011 – C-293/10) aber eine Begrenzung der Kostentragung auf Rechtsbeistand durch einen Versicherungsinternen Rechtsanwalt gesetzeswidrig (EuGH, Urt. v. 07.11.2013 – C-442/12). Zudem verwies Wendt auf das Urteil des EuGH vom 07.04.2016 – C-460/14, das den Begriff „Verwaltungsverfahren“ extensiv auslege und das Urteil des EFTA-Gerichtshofs vom 27.10.2017– E-21/16, das eine Anwaltskonsultation vor Zustimmung des Versicherungsgebers gestatte. So bestehe Spielraum für vertraglich vereinbarte Kostenbeschränkungen, Anreizsysteme bei der Anwaltswahl und eine weite Auslegung des Begriffs „Verwaltungsverfahren“.

Daraufhin widmete sich Wendt dem Urteil des EuGH vom 14.05.2020 – C-667/18, das wohlmöglich neue Maßstäbe für die freie Anwaltswahl gesetzt haben könnte. Der Versicherungsnehmer beklagte, dass der Versicherungsvertrag ihm nicht das Recht einräume, seinen Anwalt in einem Vermittlungsverfahren zu wählen. Insbesondere gehe aus diesem Urteil hervor, der Begriff „Gerichtsverfahren“ in Art. 201 I lit. a) umfasse sowohl ein gerichtliches als auch ein außergerichtliches Verfahren, mit derMöglichkeit gerichtlicher Beteiligung. Der EuGH setze diesen Begriff in Kontrast zum Begriff „Verwaltungsverfahren“, da die Auslegung nicht durch eine Unterscheidung zwischen der vorbereitenden Phase und der Entscheidungsphase eines Gerichtsverfahrens eingeschränkt werden könne. Auch die Begründung der Solvency II-RL betone zum Schutz des Versicherungsnehmers eine weite Auslegung. Unter „Verfahren“ falle so auch eine vorangestellte Phase, die in gerichtlicher Beteiligung mündet. Entsprechend müsse das „Gerichtsverfahren“ weit verstanden werden und umfasse jede Phase, die vor einem Gericht münden könnte. Diese Auslegung sei nach dem EuGH insbesondere im Rahmen der MediatonsRL (2008/52/EG) und Art. 81 II lit. g) AEUV geboten.

Sodann warf Wendt einen kritischen Blick auf die Konsequenzen dieses Urteils. Im Besonderen sei eine Differenzierung zwischen „Verwaltungsverfahren“ und „Gerichtsverfahren“ nicht ersichtlich. Weiterhin müsse das vom EuGH formulierte Schutzbedürfnis des Versicherungsnehmers im außergerichtlichen Verfahren dem Aufgabenbereich des Gesetzgebers zugeordnet werden, dem dieser beispielsweise durch die MediationsRL genüge getan habe. Die Schutzaufgabe werde nicht in der Solvency II-RL akzentuiert und müsse daher der Verantwortung der Gesetzgebung und nicht der Rechtsprechung zugeordnet werden. Wendt kritisierte, dass die Schlussfolgerung des EuGH auf Inkohärenz vom Fehlen der freien Anwaltswahl und dem Fordern von Methoden alternativer Streitbeilegung eine Frage der Perspektive und daher nicht zwingend sei. Im Ergebnis stimmte er der weiten Auslegung des Begriffs „Gerichtsverfahren“ durch den EuGH allerdings zu.

Für die Praxis bedeute dies, dass auch der Begriff „Gerichtsverfahren“ in § 127 I 1 VVG weit auszulegen sei, was aufgrund von § 127 I 2 VVG keine maßgebliche Änderung bedeute. Ziffer 2.3.3.2. und 2.3.1.1. ARB 2021 würden diesen Anforderungen bereits gerecht werden. Einschränkungen im Hinblick auf die freie Anwaltswahl im Mediationsverfahren seien nicht ersichtlich. Mithin habe die neue Rechtsprechung keine weiteren Auswirkungen auf die Praxis der freien Anwaltswahl in der Rechtsschutzversicherung, als die vorangegangenen Entscheidungen des EuGH und EFTA-Gerichtshofes.

Es schlossen sich rege und lebhafte Diskussionen an die Vorträge an.

Die Vortragsunterlagen finden Sie hier:

- Dr. Eberhardt – "Aspekte der freie Anwaltswahl aus Sicht eines Rechtsschutzversicherers"

- Prof. Dr. Wendt – " Freie Anwaltswahl in der alternativen Streitbeilegung"

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